Als Blogger, die regelmäßig Rezensionen zu Büchern über Kinder schreiben, erhalten wir den einen oder anderen Newsletter mit den Neuerscheinungen der Verlage zu diesem Thema. In dem vom Beltz-Verlag stolperte ich über ein Buch, das sehr interessant klang: Kleine Kinder sind große Lehrer: Das Genie der frühen Jahre.
"Der Philosoph, Physiker und Tänzer, Dr. Marco Wehr, beobachtet Kinder beim Lernen und macht eine erstaunliche Feststellung: Ihre Lernstrategien und die der großen Meister sind dieselben. In seinem Buch zeigt er, wie Eltern und Lehrer dieses wertvolle Wissen in ihrem Alltag mit Kindern nutzen und selbst einen neuen Zugang zum Lernen finden".
Ein Philosoph (!), Physiker (!) und Tänzer (!) schreibt ein Buch über das kindliche Lernen? Wir haben uns in diesem Artikel ja recht ausführlich mit dem kindlichen Lernen auseinander gesetzt und daher machte mich das Buch schon sehr neugierig. Der Beltz-Verlag schickte uns freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zu - das ihr wie (fast) immer gewinnen könnt - mehr dazu am Ende unserer Rezension.
Das Buch
Das Buch ist mit 155 Seiten relativ kompakt und in 17 übersichtliche, kurzweilige Kapitel unterteilt. In den ersten Kapiteln geht es um die Frage, wie Kinder erfolgreich lernen. Dabei stehen weniger die aktuell diskutierten pädagogischen Konzepte im Vordergrund, sondern vielmehr die Feststellung, dass das Bedürfnis zu Lernen evolutionär in uns verankert ist. Uns ist es in der Regel gar nicht bewusst, wie hoch komplex und kompliziert die menschliche Entwicklung ist. Stattdessen erscheint uns die kindliche Entwicklung im Vergleich zu anderen Tieren extrem langsam:
"Das Kind beginnt ungelenk über den Boden zu robben und unbeholfen zu greifen. Es schmeißt alles um, was nicht niet- und nagelfest ist. Irgendwann torkelt es durch die Gegend, steckt bevorzugt verbotene Dinge in den Mund, während es zu einer buddhistischen Meditationsübung werden kann, das Kind mit Essbarem zu füttern. Und alles wird von permanentem Geschrei, Gesabber und Gebrabbel begleitet." (S. 12)
Warum Kinder scheinbar so umständlich lernen, versucht der Autor anhand eines Vergleichs mit Meeresschnecken, Katzen und Schimpansen zu erklären. Während Meeresschnecken nur über einfache Nervenknoten verfügen, die ihnen erlauben, simple Sachverhalte vorherzusagen, sind Katzen schon in der Lage, gemachte Erfahrungen differenziert abzuspeichern und wieder aufzurufen. Schimpansen hingegen sind so weit entwickelt, dass sie ihre Erfahrungen sogar durch rudimentäre Kommunikation weiter geben können und somit Wissen vermittelt werden kann, ohne dass etwas selbst erlebt worden sein muss. Menschen hingegen haben komplexe Informations- und Kommunikationsstrukturen - Kinder lernen daher auch viel, das sie nicht selbst erleben.
Wie komplex die kindliche Entwicklung tatsächlich ist, das wird dem Leser mit der Frage vor Augen geführt, was denn komplizierter sei - gegen Garry Kasparow im Schach zu siegen oder im Dunklen einen Hosenknopf zu öffnen. Mittlerweile hat Kasparow keine Chance mehr gegen hochentwickelte Computer. Einen Roboter, der in der Lage ist, einen Knopf zu öffnen, wird es hingegen noch lange nicht geben. Fähigkeiten, die uns selbstverständlich erscheinen, sind das Ergebnis hochkomplexer motorischer oder kognitiver Prozesse - diese zu erlernen ist extrem aufwändig. In den ersten drei bis vier Lebensjahren eignen sich Kinder also eine Vielfalt sensomotorischer Meisterleistungen an.
Dabei werden sie maßgeblich vom Umfeld geprägt. Eskimo-Kinder lernen alles, das für ihre Lebensbedingungen erforderlich ist - ebenso wie Kinder in afrikanischen Wüstenstämmen. Kinder lernen dabei hauptsächlich durch Imitation - und das im Grunde ganz allein, wenn der Input altersgerecht erfolgt. Für einige Fähigkeiten gibt es sensible Fenster - Kinder mit denen bis zum Alter von 3 Jahren nicht gesprochen wurde, schaffen es nicht mehr, sich diese Fähigkeit vollständig anzueignen. Das sollte jedoch nicht als Rechtfertigung für einen Frühförderwahn gelten. Vielmehr sind Kinder so konzipiert, dass sie sich alle notwendigen Fertigkeiten von allein aneignen - wenn man sie denn lässt.
Für erfolgreiches Lernen sind vor allem "die 4 Z" notwendig: Zeit, Zuneigung, Zuwendung und Zutrauen. Wesentlich für die Entwicklung ist, dass Kinder ihren Bewegungsdrang ungestört ausleben können. Übertriebene Fürsorge und ständige Bemutterung beeinflussen die Motorik nachhaltig. Daher ist es wichtig, Kindern viel zuzutrauen und sie viel allein machen zu lassen.
Wichtig ist außerdem, sie immer wieder zu ermutigen - Misserfolge sind beim Lernen vorprogrammiert. Nur durch ständige Wiederholung und dem Erleben, was nicht geht, wird gelernt, wie etwas am besten geht. Werden Misserfolge ständig und bedauernd kommentiert, verliert sich die kindliche Unbekümmertheit. Ständige Wiederholungen sind - so langweilig sie uns Erwachsenen erscheinen - essentiell für das Lernen.
Übung macht den Meister - das größte Talent nutzt nichts, wenn nicht auch immer und immer wieder geübt wird. Auch Ausnahmetalenten (Einstein, Mozart) fällt nicht alles einfach wie von selbst zu - hinter den größten Erfolgsgeschichten steckt auch immer jede Menge Ehrgeiz, Hartnäckigkeit und Fleiß. Im Grunde erweitern erfolgreiche Erwachsene ihre Fähigkeiten auf die gleiche Art und Weise, wie kleine Kinder.
Kinder lernen, indem sie ständig Dinge tun, die sie noch nicht können - nur so entwickeln sie sich. Und diese Entwicklung fordert und fördert das Gehirn - bei Erwachsenen ebenso, wie bei Kindern. Diese Lernstrategie ist besonders erfolgreich, erfordert aber eine große Misslingenskompetenz und vor allem eine hohe Motivation. Diese Dinge werden im heutigen Schulsystem nicht berücksichtigt - es wird eine geringe Fehlerquote angestrebt, um den Prozess zu optimieren und die Motivation der Schüler wird durch starre Lehrpläne und unflexible Lehrer nicht gefördert. Außerdem fehlt den Lehrern Begeisterungsfähigkeit so dass Schulen meist reine Wissens-Eintrichterungsanstalten sind.
Deutschland vergleicht sich durch PISA, versucht mehr und mehr ideale Nachwuchskräfte für die Wirtschaft regelrecht am Fließband zu produzieren. Die Frage, was unsere Kinder wirklich brauchen und vor allem wollen, gerät immer mehr in den Hintergrund.
Meine Meinung zum Buch
Das Buch ist ein recht kurzweiliger Blick auf das Lernen, darauf wie und warum es bei Kleinkindern so effizient funktioniert. Durch die lockere Schreibweise schafft es der Autor, die Aufmerksamkeit zu fesseln und interessant zu unterhalten. Er schweift gelegentlich zu persönlichen Anekdoten ab, die aber thematisch gut passen.
Wie immer bei solchen Themen, kann ich in Bezug auf das Meiste nur immer wieder zustimmend nicken. Es bleibt das Gefühl der Frustration, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. Leider werden auch in diesem Buch keine schnell realisierbaren Lösungen geboten, so dass ich nichts anderes tun kann, als innig zu hoffen, dass mein Kind in der von mir favorisierten Schule angenommen wird. Wissen macht manchmal traurig.
Wir haben vom Beltz-Verlag ein Exemplar des Buches zur Verlosung bekommen. Wer es gewinnen möchte, schreibt uns bitte einen Kommentar mit Angabe seiner E-Mail-Adresse (bitte statt des @ ein % verwenden :-). Die Verlosung findet am 03.02.2015 statt.
Wer das Buch käuflich erwerben will, unterstützt uns ganz nebenbei, wenn er es über diesen Link tut.
© Danielle